Frauenmedizin

Unter frauenspezifischer Medizin versteht man jene besondere Betrachtung gesundheitlicher Zusammenhänge, Probleme und Krankheiten, die bei Frauen – was sowohl den Verlauf wie auch die Häufigkeit betrifft – anders manifest werden als bei Männern. Dies erklärt sich aus den unterschiedlichen reproduktiven Aufgaben der Frau sowie aus der jüngsten Erkenntnis, daß derzeit bereits hunderte Gene bekannt sind, die von den Hormonen des Eierstocks – anders wie beim Mann – gesteuert und moduliert werden.

Im August 1995 war eine Ausgabe des renommierten Wissenschaftsmagazin Science nur ein Thema »Women’s Health Research« gewidmet (Science 1995; Vol. 269). Die einzelnen Beiträge beleuchten kritisch den Stellenwert der Gesundheit der Frau in der westlichen Welt und in den sogenannten Entwicklungsländern und kommen zu dem Schluß, daß die bisher praktizierte Medizin und die bis dato durchgeführte medizinische Forschung großteils »männlich« orientiert ist.

Wie läßt sich der offensichtliche Wandel in der Sichtweise der Medizin erklären? Auf der einen Seite ist diese Entwicklung auf Frauenbewegungen zurückzuführen, die besonders in den USA sehr aktiv sind und die auf die Gesundheit der Frau in vermehrter Weise aufmerksam machen. Auf der anderen Seite ist es die Tatsache, daß Frauen selbst in der Medizin aktiver wurden und in medizinischer Forschung involviert sind. Nicht zuletzt sind es aber die medizinischen Forschungsergebnisse selbst, die mit immer neuen Erkenntnissen den »kleinen Unterschied« groß belegen.

In den USA ist bemerkenswert – und in Europa ist der gleiche Trend zu beobachten: die Hälfte aller Medizinstudenten sind Frauen. Viele Universitäten haben deshalb eigene Frauen-Gesundheitsprogramme etabliert und Regierungen vieler Länder haben eigene Beratungsstellen für Frauen-Gesundheitsfragen eingerichtet. Dieser positiven Entwicklung wurde weiters gebührend Rechnung getragen, als 1995 die UNO Frauenkonferenz in Peking einberufen wurde.

Frauen in der industrialisierten Welt ändern zunehmend ihre Einstellung, was ihre eigene Gesundheit und Krankheit betrifft. Die Kritik, daß die männliche medizinische Hierarchie Frauen jahrelang falsch behandelt hat, wird immer lauter. Aktivisten beschuldigen sogar die medizinischen Forschung, Frauen bei klinischen Studien vernachlässigt zu haben. Daten und Erkenntnisse, die aus einer Studie stammen, die hauptsächlich mit gesunden Männern durchgeführt wurde, können nicht automatisch auf Frauen übertragen werden.

Aufgrund aktueller medizinischer Erkenntnisse beginnt sich eine neue, frauenspezifische Medizin durchzusetzen, die die fundamentalen Unterschiede zwischen Mann und Frau in Bezug auf Gesundheit und Behandlung bei Krankheit berücksichtigt.

Frauengesundheit in Abhängigkeit von der weiblichen Reproduktion

Um geschlechtsspezifische Medizin und diesbezügliche Forschung betreiben zu können, muß der endokrine Zyklus der Frau und die zahlreichen extragenitalen Funktionen der Eierstockshormone berücksichtigt werden. Nur der, der über die reproduktive Kraft der Frau Bescheid weiß, kann letzten Endes gute frauenspezifische Medizin betreiben.

Obwohl schon sehr viel Forschung in Bezug auf weibliches Endokrinum betrieben wurde, beginnt sich jetzt noch mehr die Wissenschaft auf das weibliche Hormonsystem und seine biochemischen Steuerungsmechanismen in Abhängigkeit vom Zyklus zu konzentrieren. Die Wissenschaft erkennt einerseits den Zusammenhang der endogenen Hormone und deren Interaktion mit Medikamenten, andererseits den Einfluß exogen zugeführter Hormone und deren Zusammenspiel mit dem endogenen System. Lange glaubte man, daß es keinen Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt einer verabreichten Medikation und dem Menstruationszyklus gibt. Doch nun erkennt man immer deutlicher, daß es signifikante, geschlechtsspezifische Unterschiede in Pharmakodynamik und Pharamkokinetik von exogen zugeführten Stoffen gibt. Diesen Unterschied beobachtete man unter anderem nach der Verabreichung trizyklischer Antidepressiva. 1992 wurde erstmals beschrieben, daß nur dann konstante Plasmaspiegel psychotroper Substanzen erreicht werden, wenn man in Abhängigkeit von Östrogen- oder Progesteron-Dominanz die Dosis variiert. Derzeit gibt es aber noch zu wenig Studien, die einen Vergleich zwischen einer »männlichen« und einer »weiblichen« Dosis zulassen würden.

Zur Zeit ist es dem Frauenarzt überantwortet, sich mit den Erkrankungen des weiblichen Geschlechts (im wahrsten Sinn des Wortes) zu beschäftigen. Doch das Fach der Frauenheilkunde ändert derzeit sein Profil: Während in den vergangen Jahrzehnten das innere beziehungsweise auch das äußere Genitale primäres Objekt gynäkologischer Interventionen war, und dies auch oft ausschließlich unter operativen Aspekten – erkennt man in zunehmendem Maße, daß die Fortschritte der Endokrinologie aus der Frauenheilkunde eine ganzheitliche Disziplin machen, die sich auf den gesamten weiblichen Körper, soweit er von den Sexualsteroiden beeinflußt wird, fokussiert; aus dem Fach der Frauenheilkunde wird eine frauenspezifische Medizin, mit einer hohen wissenschaftlichen und klinischen Dimension.

Conclusio

Von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wird schon seit längerer Zeit gefordert, daß der Frauenarzt mehr sein soll als ein Facharzt für das Genitale: er soll in ganzheitsmedizinischer Weise die Frau in all jenen Problemen beraten und ihr zur Seite stehen, die geschlechtsspezifisch und durch eine unterschiedliche hormonelle Regulation bedingt sind. Das weibliche endokrine System ist in eine Fülle anderer Körperkompartements involviert, was die Geschlechtsspezifität vieler Erkrankungen erklärt. Damit wird das Fach der Frauenheilkunde nicht nur ihr diagnostisches, sondern auch therapeutisches Angebot in interdisziplinärer Weise erweitern müssen.

Nicht nur die Psyche, auch neurologische Erkrankungen wie die Multiple Sklerose haben eine frauenspezifische Seite, welche von der Medizin aufgearbeitet werden muß. Gleiches gilt für dermatologische Erkrankungen, für den Lupus erythematodes und für das Trockenheitsphänomen (Sicca Syndrom), das in der Menopause besonders noch besprochen wird. Aber auch der Stoffwechsel ist bei der Frau ein anderer als beim Mann, die Lungenfunktion sowie die Blutbildung. Die Medizin wird sich dem in zunehmender Weise widmen müssen.